„Aus der Höhle ins Raumschiff“
Karnak, Luxor-Tempel, Tal der Könige: Tausende Touristen machen jährlich eine Nilkreuzfahrt, um die berühmten Sehenswürdigkeiten entlang des nördlichen Teils des mit 6650 Kilometer längsten Flusses der Welt zu besuchen. Weiter als Assuan kommt in der Regel keiner der Afrika-Fans. Sie bleiben alle in Ägypten. Weiter südlich gibt es keine Motive fürs Fotoalbum. Der Südsudan ist kein Touristenziel. Konflikte und politische Instabilität locken keine Besucher an. Das von Dürren heimgesuchte, arme Land ist vielmehr Ziel von humanitären Organisationen. 4,9 Millionen Menschen sind auf fremde Hilfe angewiesen. Nahrung, Medikamente, sauberes Wasser – es fehlt an allem.
Eine der in diesem Land aktiven humanitären Organisationen ist International Medical Corps. Die rund 8.000 Mitarbeitenden haben seit der Gründung 1984 schon in mehr als 80 Ländern Katastrophenhilfe geleistet. Der Südsudan ist aktuell ein Schwerpunktland der Organisation, die ihren Sitz in den USA hat. Und dort, wo die Lebensbedingungen der Menschen extrem schlecht sind und die Infrastruktur besonders marode ist, testete das International Medical Corps in Beschaffung und Logistik eine intern entwickelte Software, das Pharmaceutical Information Management System (PIMS) für die letzte Meile des Supply Chain Managements. Mit den Ergebnissen erregte die Organisation weltweit Aufmerksamkeit.
Auch bei der 16-köpfigen Jury der Lynn C. Fritz Medal for Excellence in Humanitarian Logistics. Sie wird von der Logistics Hall of Fame vergeben und vom Fritz Institute in San Francisco gesponsort. International Medical Corps wird als erste Organisation weltweit mit dieser Medaille ausgezeichnet, die 2023 eingeführt wurde. Denn International Medical Corps löst ein zentrales Problem aller humanitärer Organisationen mithilfe von PIMS: die Beschaffung, Verfolgung und Ausgabe von Arzneimitteln – Prozessschritte, die bisher vor allem auf Papier dokumentiert und gesteuert wurden. Vor der Entwicklung des Tools produzierten die Akteure auf der letzten Meile der pharmazeutischen Lieferkette Papierberge. Im Alltag heißt das: Es gibt Apotheken, zu denen 500 Patientinnen und Patienten pro Tag kommen. Für jedes Rezept müssen dort mehr als 40 Informationen erfasst werden.
Vom Wareneingang der Medikamente im Lager bis zur Ausgabe an die Patienten müssen pro Tag 20.000 Daten erfasst werden. Die Mammutaufgabe der Apotheker: Alle Daten müssen zur Analyse und Auffüllung der Bestände digitalisiert und an eine zentrale Stelle weitergeleitet werden. „Das dauert Wochen und es ist unmöglich, schnelle Erkenntnisse aus diesen Daten zur Kostensenkung oder Leistungssteigerung zu gewinnen“, berichtet David Alarcon, Vice President Corporate Finance bei International Medical Corps. „Das Management von Lieferketten mit Papier und Excel ist wie Autofahren mit Blick in den Rückspiegel.“
2015 beschließt das International Medical Corps, dass die Zeit der Papierberge enden muss. Ein Team sucht nach Lösungen auf dem Markt. Vergeblich. Die Software-Tools sind entweder sehr teuer oder für den Einsatz in der Katastrophenhilfe ungeeignet. 2018 beschließt International Medical Corps, eine Lösung intern zu entwickeln. Im Gegensatz zu anderen Organisationen oder Unternehmen, in denen eine Führungskraft ein Vorhaben von oben nach unten delegiert, wählt das International Medical Corps den Bottom-up-Ansatz. Das heißt konkret: Mitarbeitende aus der gesamten Organisation beteiligen sich – Apotheker, Logistiker, Ärzte, Techniker und Experten aus der Finanz- und Rechtsabteilung. Der Vorteil dieses Vorgehens: Bei der Software-Entwicklung wird das kombinierte Wissen aller Beteiligten genutzt.
„Wir entwickelten PIMS, um die vielfältigen organisatorischen Anforderungen zu erfüllen, die den Lebenszyklus eines Produkts von der Planung über die Beschaffung, den Transport und die Lagerung bis hin zur Abgabe an die Begünstigten abdecken“, erläutert Alarcon die Gründe.
Aus seiner Sicht war es überfällig, dass die richtigen Medikamente in der passenden Menge in Gesundheitseinrichtungen zur Verfügung stehen. Und dass die Produkte ordnungsgemäß verschrieben und ausgegeben werden. Nur so erhöhe sich die Qualität der Gesundheitsdienste für die Patientinnen und Patienten. Bessere Ergebnisse stärkten das Vertrauen ins Gesundheitssystem und führten letztlich zu einer geringeren Mortalität.
International Medical Corps hat bei der Entwicklung des Systems auf bewährte Technologien gesetzt. Mit Hilfe von Scannern werden die Barcodes auf den Medikamenten erfasst und grundlegende Informationen über die Artikel und die Transaktionen in das System übertragen. In PIMS werden einfache, benutzerfreundliche Schnittstellen eingesetzt. Die Nutzer können problemlos relevante Informationen zur Lieferkette und grundlegende Patientendaten eingeben, während das System im Hintergrund voreingestellte Algorithmen verwendet, um die erfassten Daten zu ergänzen. So kann das System statistische Auswertungen in Echtzeit bereitstellen und Warnmeldungen generieren, damit Supply Chain Manager rechtzeitig Maßnahmen ergreifen und ihre Projekte effizienter durchführen können.
Quelle: Anita Würmser
Bildquelle: International Medical Corps